Unser Zug ist unbesiegbar - Spreefeuer fährt nach Stuttgart


Die folgende Geschichte ist eine jener Geschichten, die nicht einfach so im Raum stehen, sondern auch eine Vorgeschichte haben. Und diese Vorgeschichte geht so:

In den tiefen Südwesten war Spreefeuer in dieser Saison schon einmal gefahren. Das war im November 2015 und es ging gegen die SG Sonnenhof Großaspach. Zusammen mit Freunden aus Werder machte sich ein kleiner Haufen Wahnsinniger in aller Herrgottsfrühe mit dem ICE auf den Weg gen Süden. Der Verfasser dieser Zeilen wurde seiner Funktion als Reiseleiter damals nur bedingt gerecht und zog es vor, schon einige Tage vorher Quartier in der Nähe des Spielortes zu beziehen. Die Anreise verlief dem Vernehmen nach nicht zum Gefallen aller Beteiligten und so kam es, dass er am Zielbahnhof einen übel gelaunten Präsidenten empfangen durfte, der ihm das Versprechen abnahm, bei der nächsten Tour dieses Ausmaßes doch gefälligst von Anfang an dabei zu sein. Und so sollte es geschehen.

Die Planung für die Fahrt zum letzten Auswärtsspiel unserer ersten Drittligasaison begann also recht frühzeitig. Das bedeutet in unserem Fanclub, dass wochenlang Optionen abgewogen, Teilnahmen zu- und abgesagt und verschiedene Verkehrsmittel in Erwägung gezogen werden. In diesem Falle betraf das zum Beispiel die Wahl zwischen Zug und Flugzeug. Zu Beginn der Planung - also Ende Februar - hielten sich die Kosten noch etwa die Waage. Mit zunehmender Zeit aber gewann die Bahn - oder erwies sich zumindest als die günstigere Lösung. Die Reisegruppe war mehr oder minder fix und so wurde im März ein Ticket für vier im ICE gebucht, bevor das alles noch teurer werden würde.

Teurer wurde es nicht, das sei hier schon verraten. Nur komplizierter. Es fing an mit der Bahn, die spontan eine Baustelle einrichten und die Fahrpläne über den Haufen werfen musste und ging weiter mit der Reisegruppe, die lagebedingt mal größer und mal kleiner wurde. Am Ende blieben dreie übrig, die zwischenzeitlich nur zweie und kurzzeitig auch gar keiner mehr waren. Eine Woche vor der Fahrt wurden die Tickets umgebucht. Auf einen Zug, der um 4:40 Uhr am Berliner Hauptbahnhof starten sollte. Ende der Vorgeschichte.

Samstagmorgen (oder Freitagnacht?), 2:00 Uhr. Ich schäle mich aus den Federn. Die Nacht war verdammt kurz und Schlaf habe ich nicht wirklich gefunden. Viel zu sehr haben mich die Gedanken an das, was mir heute bevorstehen würde, auf Trab gehalten. Nun heißt es, schnell auf Betriebstemperatur zu kommen, bloß nichts zu vergessen (Eintrittskarte? Fahrkarte? Verpflegung?) und pünktlich den S-Bahnhof zu erreichen. Auf der gut halbstündigen Fahrt an den Rand der Hauptstadt begegnet mir keine Menschenseele. Auch die S-Bahn ist recht spärlich gefüllt - hauptsächlich mit Nachtschwärmen, die nun langsam heimwärts strömen. Ich verlasse die Bahn am Brandenburger Tor, weil die sinnvollste Option, zu dieser Zeit den Hauptbahnhof zu erreichen, tatsächlich ein viertelstündiger Marsch durchs nächtliche Regierungsviertel ist. Der Frühsport bringt den Kreislauf in Schwung und so erreiche ich um 4:35 Uhr mit Schweißperlen auf der Stirn und gesunder Gesichtsfarbe das Abfahrtsgleis, auf dem mich schon Salvador und Michel erwarten.

Während sich die meisten Mitreisenden sofort bemühen, eine halbwegs horizontale Position einzunehmen, setzen wir einen wenige Tage zuvor gefassten Beschluss in die Tat um: Das erste Bier der Reise soll stilecht im Bordrestaurant eingenommen werden. Und so sitzen wir Punkt 5:00 Uhr auf den roten Polstern und ordern drei große Pils. Die Bedienung kann ihre Abneigung gegen die Fußballproleten mit Mühe verbergen, setzt einen wissenden Blick auf und quittiert die Order nur mit "alles klar". Derweil rauscht draußen vor der aufgehenden Sonne mein Heimatbahnhof vorbei. Während wir uns irgendwann zu einer zweiten Runde durchringen, macht das Gastropersonal Pause und tauscht am Nebentisch Kriegsgeschichten aus. Inspiriert durch die einzigen Gäste im Bordrestaurant überbieten sich die drei Veteranen mit ihren tollsten Erlebnissen mit Fußballfans in der Bahn. Die Reisegruppe Spreefeuer bietet derweil keinen Anlass zur Klage und zahlt sogar ohne zu murren die Rechnung.

Kurz vor Erfurt nehmen wir dann wieder unsere regulären Plätze ein. Es machen sich erste Ausfälle bemerkbar; die Müdigkeit übermannt die Truppe und der Präsident nutzt die Gelegenheit, zwei Reihen weiter nochmal ein Schläfchen zu machen. Erst gegen halb zehn kann er durch den Verzehr eines Wiener Würstchens die Lebensgeister wieder wecken. So verläuft die weitere Fahrt weitestgehend ereignislos. Die Durchfahrt in Offenbach erinnert Michel an Babelsberg und ab Frankfurt fahren die beiden Mitreisenden, die vorher unbedingt vorwärts fahren mussten, rückwärts, ohne sich daran zu stören. Der Reiseleiter freut sich, nun auch mal voraus schauen zu können, wenn er ausnahmsweise mal den Blick vom Mobilgerät abwendet, auf dem er wahlweise Tweets mit dem unfassbar kreativen Hashtag #UnserZugIstUnbesiegbar verfasst oder SMS der Sektion Mannheim beantwortet.

Stichwort Mannheim. Ab hier steigen dann doch langsam Vorfreude und Hungergefühl. Salvador und Michel werden nicht müde zu erklären, dass in Stuttgart unbedingt für den Verzehr von Käsespätzle oder anderer regionaler Spezialitäten eingekehrt werden müsse. Ich sorge bei den beiden also für berechtigten Unmut, als ich Steffen am Telefon erkläre, nach Ankunft in Stuttgart zügig Richtung Stadion verlegen zu wollen, wo er auf uns warten würde. Beschwichtigende Worte, dass ja auch nach Abpfiff noch Zeit für Spätzle sei, beruhigen die Situation zunächst und wir machen uns mit der Stadtbahn auf den Weg aus dem berühmt-berüchtigten Talkessel auf die Höhe des Bopsers (lustige Namen haben die hier). Am Fuße des Fernsehturms werden wir von Steffen und seiner Begleitung begrüßt und es geschieht das Unfassbare: In unmittelbarer Nähe entdecken wir ein griechisches Restaurant mit Biergarten, das auch schwäbische Spezialitäten anbietet. Die Käsespätzle kommen zügig auf den Tisch und die Laune steigt merklich.

Gut gestärkt sind wir dann auch bereit für Fußball. Die wenigen Meter zum Stadion sind schnell überwunden und es gilt, viele bekannte Gesichter zu begrüßen, die ebenfalls den weiten Weg auf sich genommen haben. Dann steht die nächste Entscheidung an: Blockwahl. Vor dem eigentlich gekauften, überdachten Steher auf der Gegentribüne stehen Vertreter von Block U und bitten, doch erstmal die Blöcke hinter dem Tor zu füllen. Die liegen allerdings in der prallen Sonne und Erfahrungen der Vergangenheit zeigten zumindest mir persönlich, dass das für Leute mit Hauttyp I in der Regel nicht gut geht. Ich bin nicht der einzige, der das so sieht und so versammelt sich am Ende doch die ganze Truppe unterm Dach, was den Vorteil hat, Block U mal bei der Arbeit zusehen zu können.

Zum Spiel an sich gibt es nicht viel zu erzählen. Selbst diverse Medien zogen es später vor, die erste Halbzeit mehr oder minder zu ignorieren. Es ist ein Spiel, bei dem man zwar nie ernsthaft eine Niederlage fürchten muss, aber es plätschert alles irgendwie vor sich hin. Erst im zweiten Durchgang gelingt es dem Käpt’n, endlich eine der durchaus vorhandenen Chancen in einen Torerfolg umzumünzen. Ein unfassbar wichtiges Tor, wenn man bedenkt, dass an diesem Spieltag tatsächlich mal alles für uns läuft und die Konkurrenz aus Osnabrück und Großaspach in ihren Partien Federn lässt. So bedeutet dieses 1:0 den Sprung auf Platz vier in der Tabelle und wird natürlich angemessen gefeiert, wobei der Stadionsprecher sich Mühe gibt, die Leute mit Nachdruck auf den früher abfahrenden Sonderzug hinzuweisen, um die Bude zügig zu leeren. Das alles passiert dennoch überaus freundlich und als ein Ordner uns als die letzten im Block befindlichen Fans bittet, das Gespräch nun doch lieber nach draußen zu verlagern, tut er das derartig charmant, dass man ihm auch noch einen schönen Feierabend wünschen möchte. Das passt irgendwie ins Gesamtbild des Tages, an dem auch die Polizei wohltuend zurückhaltend agiert. Fast ist man traurig, nächste Saison nur noch einmal leider gar nicht mehr auf die Waldau fahren zu dürfen.

Dennoch steht nun die Heimreise an. Am Hauptbahnhof angekommen wird zunächst der Versuch unternommen, noch auf einen früheren Zug in die Heimat wechseln zu können. Nach einigem Hin und Her wird der Antrag abgelehnt, was wenigstens dazu führt, dass genug Zeit bleibt, Verpflegung zu fassen und noch ein Weilchen zu entspannen. Auf dem Bahnsteig treffen wir Uli, der sich dazu entschließt, uns bis zum Frankfurter Flughafen zu begleiten. Wir unterhalten uns angeregt und so vergeht dieser Teil der Reise wie im Fluge - auch für den Bahnangestellten, der sich von uns eine Dose Bier erbettelt. Kurz vor Ulis Ausstieg erhalten wir von einem mitreisenden Braunschweiger noch die Ermahnung, dass beim Umstieg in Hannover Ungemach drohen könnte, wenn wir dort als Clubfans erkennbar wären. Wir versprechen, das zu berücksichtigen, aber bis dahin sei ja noch Zeit.

Das "Ungemach" ereilt uns dann aber ganz schnell. Am Frankfurter Hauptbahnhof füllt sich unser ICE mit einer interessanten Mischung aus Eintracht- und BVB-Fans (die heute in der Bundesliga die Säbel kreuzten) sowie einem beachtlichen Haufen Rostocker auf der Rückreise von ihrer Niederlage in Mainz. Highlight der an unserem Tisch vorbeiziehenden Fanpolonaise ist ein junger Mann im BVB-Trikot mit FCM-Tattoo auf der Wade - klarer Fall von falsch gesetzten Prioritäten. Einer der Rostockääää zieht nicht vorbei, sondern setzt sich auf den freien vierten Platz in unserer Runde. Er erklärt sogleich, dass seine Truppe aus in Hamburg lebenden Exil-Hanseaten bestünde und er Magdeburg eigentlich ganz dufte fände, weshalb wir auch ganz entspannt bleiben könnten. Bleiben wir auch. Erstmal.

Irgendwann verzieht sich unsere Reisebekanntschaft zu ihren Freunden, die sich zwar etwas laut, aber nicht übermäßig lästig oder unhöflich verhalten ("Ich will noch ein Bier" - "Das heißt: 'ich möchte!'"). Wir nutzen die Gelegenheit, uns zivil zu kleiden, falls die nächste Begegnung nicht so glimpflich ablaufen würde.

Nun nicht mehr auf den ersten Blick als Fußballfans erkennbar, erhalten wir Besuch vom Schaffner. Der äußert sich ziemlich eindeutig über die "asozialen Verhältnisse" im Waggon, die wahrscheinlich nur er so empfindet, verspricht aber, dass damit bald Schluss sei. Was das bedeutet, erklärt ein Blick aufs Mobilgerät. Für unseren Zug ist bereits eine Verspätung wegen "polizeilicher Ermittlungen" eingetragen. Schlussfolgerung: Für den folgenden Halt in Kassel sind Cops bestellt, was je nach Entwicklung der Lage zu unkalkulierbaren Verzögerungen führen würde. Alternativen werden geprüft, da unser Umstieg in Hannover eh nur einen geringen Puffer aufweist, der für einen Besuch im Wurstbasar nur im Idealfall ausreichen würde. Es wird beschlossen, in Kassel auf den nachfolgenden direkt nach Berlin fahrenden ICE umzusteigen, wenn der Halt deutlich länger als geplant ausfallen sollte. Auch der Schaffer segnet diesen Entschluss ab, indem er auf Nachfrage die Zugbindung aufhebt.

Nach Einfahrt in Kassel kommt es wie befürchtet. Auf dem Bahnsteig wartet bereits die Bundespolizei und kesselt die zum Rauchen aussteigenden Rostocker ein. Die Minuten verstreichen und wir entschließen uns, ebenfalls auszusteigen und auf den anderen Zug auszuweichen. Auch Mitreisende, die unsere Planungen während der letzten halben Stunde mitverfolgen konnten, tun es uns gleich. Während der Zug weiter am Bahnsteig steht und die Polizei "ermittelt", warten wir darauf, dass der Folgezug am gegenüberliegenden Gleis angekündigt wird, was aber zunächst nicht passiert. Plötzlich geht alles ganz schnell: Die Rostocker dürfen wieder einsteigen, die Reise soll mit deutlicher Verspätung weitergehen. In einer Kurzschlussreaktion, die später mit "die Türen haben gepiept" und dem resoluten Eingreifen einer Bahnbediensten begründet werden sollte, schubst mich Salvador zurück in den ursprünglichen Zug. Während wir wieder unsere Plätze einnehmen und sich unser Zug in Bewegung setzt, fährt auf dem anderen Gleis der ICE nach Berlin ein...

Als wir kaum fertig damit sind, zu überlegen, was das denn eben war, verkündet der Zugchef, dass alle Fahrgäste nach Berlin ihren Anschluss in Hannover wohl eher nicht erreichen würden und in Göttingen auf den Folgezug umsteigen sollten. Ich bin geneigt, ein "ich hab‘s euch ja gesagt" von mir zu geben, sehe aber, dass auch der Rest der Reisegruppe das längst begriffen hat und verzichte auf überflüssiges Nachtreten. Es überwiegt die Freude, dass wir zumindest noch eine Option in der Hinterhand haben, während Reisenden nach Magdeburg im Zehnminutentakt sich widersprechende Empfehlungen gegeben werden, von denen niemand weiß, ob und wie das noch funktionieren soll.

Wir verlassen also in Göttingen den ICE mit den Rostockern, die dem Vernehmen nach später noch in Hamburg eine weitere unschöne Begegnung mit der Staatsmacht haben sollten und entern den nächsten Zug, in dem wir reichlich Clubfans vorfinden, die sich bereits ab Stuttgart auf diese Verbindung verlassen hatten. Diese Etappe beginnen wir so wie unsere ganze Reise: Im Bordrestaurant. Das Bier (und den warmen Eintopf) haben wir uns redlich verdient. Nach dieser Stärkung suchen wir uns freie Plätze und nehmen die letzten zwei Stunden bis Berlin in Angriff. Jetzt überkommt mich zum ersten Mal auf dieser Auswärtsfahrt die Müdigkeit und ich döse ein wenig vor mich hin. Ich bekomme noch mit, dass die Bahn es tatsächlich geschafft hat, in Wolfsburg die letzte Regionalbahn nach Magdeburg 25 Minuten aufzuhalten und den Clubfans einen Anschluss zu ermöglichen.

Am Bahnhof Spandau verabschieden sich Michel und Salvador. Ich nutze am Hauptbahnhof den Weg vom Tiefbahnsteig zur S-Bahn, um wieder wach zu werden (siehe: Frühsport) und bekomme tatsächlich die geplante Bahn nach Hause.

Sonntagmorgen (oder Samstagnacht?), 2:00 Uhr. Ich schließe die Haustür hinter mir und falle nach 24 Stunden auf den Beinen ansatzlos ins Bett. Was für ein Ritt.

Ralle

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